Anfang 2017 berichtete die ZEIT über die „Krise der Klugen“. Forschende in Deutschland duckten sich lieber weg, als Haltung zu zeigen, schreibt Manuel J. Hartung. Während Rechtspopulisten die Wahrheit verdrehen und alternative Fakten viral gehen, zeige die Wissenschaft zu wenig Flagge. Zitat: „Professoren, die über die großen Dinge nachdenken, wagen sich nicht aus der Peripherie. Ein Fernsehauftritt vor Millionen Zuschauern sei immer noch anrüchiger als ein Fachaufsatz für 5 Leser.“
Stimmt das noch? Meine Überzeugung ist: nein!
Das liegt natürlich am täglichen Bedarf an Virolog:innen, Immunolog:innen und Epidemiolog:innen, die uns die Corona-Welt erklären. Und das liegt auch an der Dynamik des Wahljahres 2021, in dem Sachkundige aus Politik- und Wirtschaftswissenschaft enorm gefragt waren. Am Beispiel eines Interviews der Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Landfried wird deutlich, wie kluge Köpfe mit klaren Botschaften einen echten Mehrwert leisten.
Christine Landfried wird am 24. November 2021 vom Radiosender NDR Info interviewt. Es ist der Tag, an dem die künftige Ampelkoalition ihren Vertrag vorstellt. 170 Seiten für die kommenden vier Jahre. Ich höre das Interview im Auto, was insofern erwähnenswert ist, als dass die Professorin nicht meine ungeteilte Aufmerksamkeit hat.
Trotzdem bleibe ich dran. Landfried lobt zunächst den Koalitionsvertrag als Signal, das weit mehr sei als der kleinste gemeinsame Nenner. Hier ist sie sprachlich etwas unscharf, leicht verschachtelte „dass“-Sätze und Konjunktiv klingen noch nicht nach klarer Haltung. Dann aber wird die Wissenschaftlerin deutlich: Die Aussagen zur Corona-Krise und den geplanten Maßnahmen, sagt sie wörtlich, „fand ich eher schwach“. Die Krise nur beherrschbar halten, „das reicht nicht aus!“ Und weiter: „Das war alles sehr zurückhaltend.“
Auch übergeordnet findet Landfried klare Worte: 170 Seiten Koalitionsvertrag, das sei wohl ein Missverständnis. Hier gehe es nicht darum, eine Sache „zu verwalten“. Man könne nicht für alle Eventualitäten Vorkehrungen treffen. Es sei viel wichtiger, das Unerwartete zu managen. Die vergangenen Jahre hätten ja häufig genug gezeigt, dass das Unerwartete eintritt. Das könne man nicht nur „verwaltungsmäßig abhaken“.
Neben den klaren Botschaften konnte ich am Ton hören, wie engagiert Christine Landfried dahintersteht. Sie war auch stimmlich überzeugend und kraftvoll. Allein schon die Tonalität sagt: Es ist mir wichtig, meinen Blick auf das Geschehen zu vermitteln. Es mir wichtig, mich zu positionieren. Und es mir wichtig, dass die Zuhörenden verstehen, wo im Koalitionsvertrag Licht und Schatten liegen. Es ist meine Meinung, und die vertrete ich!
Ein weiterer Beweis dafür, dass die „Krise der Klugen“ Geschichte ist.
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